Carmen

CARMEN Carmen! Immer wieder Carmen.

Sabrina Zwach

Der Stoff – ein Jahrhundert-Stoff, der Schaffende und Sehende, Lesende und Hörende immer wieder, durch alle Jahrhunderte hindurch inspiriert und begeistert. Die Lesarten der titelgebenden Carmen sind ebenso verschieden und dienen als Projektionsfläche für alle Arten von gesellschaftlichen Entwürfen.
Schon der Name Carmen ist mit Geschichte und Geschichten verbunden:
Der aus dem Spanischen stammende Vorname bezieht sich auf Nuestra Señora del Carmen, was so viel heißt wie „Unsere Liebe Frau auf dem Berge Karmel“ und somit auf Maria, die Schutzpatronin der Kirche des am Berg Karmel gegründeten ersten Karmeliterklosters. Die Namensgebung erfolgte im Anschluss an eine Marienerscheinung des Generalpriors des Karmeliterordens im Jahr 1251 in Cambridge. Das lateinische Wort carmen, bedeutet „Lied, Gesang“ oder „Gedicht“.
Das Libretto zu Bizets Oper Carmen schrieben Henri Meilhac und Ludovic Halévy nach der gleichnamigen Novelle von Prosper Mérimée. Der Stoff wurde ursprünglich in der „Revue des Deux Mondes“ vom 1. Oktober 1845 veröffentlicht und wurde vielfach adaptiert und diente Künstlern und Künstlerinnen durch alle Zeiten als Inspiration und Vorlage. Mehr als 50 Carmen-Verfilmungen existieren bis heute.1915 wurde Carmen beispielsweise gleich zwei Mal verfilmt. 1916 erschien in den USA die Carmen-Parodie Burlesque on Carmen von Charles Chaplin.1918 verfilmte Ernst Lubitsch die Oper. 1954 Otto Preminger.Anfang der 80er Jahre kam es zu einer Carmen-Wiederentdeckung: Carlos Saura zeigte 1983 eine eigene Interpretation, im selben Jahr erschien die Verfilmung von Jean-Luc Godard und die Opernverfilmung von Peter Brook. 1984 inszenierte Francesco Rosi die Opernverfilmung mit Julia Migenes und Plácido Domingo in den Hauptrollen. 1990 erschien Carmen on Ice, ein Tanzfilm mit Katarina Witt als Carmen; 2003 die Verfilmung des spanischen Regisseurs, Vicente Aranda; ein Jahr später U-Carmen, ein südafrikanischer Film von Mark Dornford-May, der 2005 den goldenen Bären auf der Berlinale 2005 erhielt. Die hier genannte Aufzählung ist nicht vollständig!Die Carmen-Verfilmung von Ernst Lubitsch hatte am 20. Dezember 1918 in Berlin im Union-Theater Welturaufführung und ist halb Liebesmelodram, halb Militärsatire. Lubitsch setzte ganz auf seine Hauptdarstellerin Pola Negri, die mit Carmen ihren internationalen Durchbruch errang.„In Lubitschs Carmen-Film ist die Hauptfigur niemals Liebende, sie nutzt ihre weiblichen Kräfte als Lockvogel für die Banditen, zur Verführung des Gefängniswärters und zur flüchtigen selbstbetrügerischen Annäherung an das Establishment: berühmter Stierkämpfer und Offizier“, schrieb Werner Schroeter 1988 in dem „Lubitsch“-Band von Hans Helmut Prinzler und Enno Patalas. Carmen! Immer wieder Carmen! Carmen! Die Fabrikarbeiterin.
Carmen verkörpert viele Aspekte. Sie wird als weibliche Protagonistin, erotische Figur, Wahrsagerin, Schmugglerin, Verführerin, Romni, als Querulantin und Femme Fatale gesehen. Carmen ist jedoch auch ganz schlicht Fabrikarbeiterin in einer Zigarrenfabrik in Sevilla. Eine so genannte „cigarrera“, die Zigarren wickelt, rollt und schneidet. Carmen raucht während der Arbeit Zigarren, außerhalb der Fabrik bevorzugt sie „papelitos“, eine Art von Zigaretten.
Die Mitarbeiterinnen in Tabakfabriken in Spanien und Frankreich waren es, die auf die Idee kamen, Reste des Tabaks in Papier einzuwickeln und zu rauchen. Schon zwei Jahre später, 1852, gab es die erste Zigarettenfabrik in St. Petersburg. Während dieser Zeit war das Rauchen eines der wenigen Genussmittel, das für die breite Masse erschwinglich war. In Deutschland blieb die Zigarette bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts unbekannt. Joseph Huppmann führte sie von St. Petersburg aus ein. Er betrieb dort ab 1852 eine Zigarettenfabrik und richtete 1861 in Dresden eine Filiale unter dem Namen „Laferme“ mit einem Tabakschneider und sechs Arbeiterinnen ein.
Circa 100 Jahre später war „Carmen“ dann auch eine beliebte Zigaretten-Marke der DDR. In Dresden hergestellt, später in Berlin, hieß der Slogan: Carmen – Die fein aromatisierte Zigarette für den anspruchsvollen Raucher!

Seit 1730 war die spanische Tabakproduktion königliches Monopol. Möglichkeiten des Schmuggels wurden streng unterbunden. Die „Fabrica real de tabacos“ in Sevilla war ein zitadellenartiges Gebäude mit Festungsgräben, steinernen Wachhäuser und gigantischen Außengitter. Das Unternehmen verfügte über eine eigene Rechtsprechung und ein eigenes Gefängnis. Ab 1812 arbeiteten dort Fabrikarbeiterinnen. 1894 schreibt der französische Journalist, Romancier und Politiker, Maurice Barrès, in seinen Reisebericht: „Fünftausend Sevillanerinnen in diesen ständig durch Wasser gekühlten und mit einem erregenden Tabakstaub besäten Werkstätten; sie sind halb nackt und zeigen (…) runde Arme, goldbraune Brüste, Waden und da und dort auch jene Kleinode, deren Namen zu sehr der Anmut entbehren, als dass ich dies Bild mit ihnen entweihen möchte.“
Die Fabrikarbeiterinnen wurden schlecht bezahlt. Gerade darum waren sie keineswegs nur zigarrenrollende erotische Projektionsflächen, die die Reiseberichte von Schriftstellern anzureichern verstanden, sondern auch politisch aktive und emanzipierte Frauen. Drei Jahre vor Erscheinen der Novelle Mérimées organisierten sie beispielsweise eine der größten Straßendemonstrationen Sevillas, um gegen die sozialen und hygienischen Arbeitsbedingungen in der Tabakindustrie zu protestieren. Frauen leisteten in der Tabakindustrie vor allem Vorarbeiten wie die Fertigung der sogenannten Wickel, während Männer das Zigarrendrehen und Sortieren übernahmen, was höher bezahlt wurde. Die Qualifikation musste für beides gleich hoch sein, die Lohndifferenz erklärt sich nur aus dem Geschlechterunterschied. Fabrikarbeiterinnen sahen ihre Erwerbsarbeit meist als Notwendigkeit und nicht als „berufliche Verwirklichung“ – diese konnten sie kaum erreichen. Aufstieg gab es für Frauen im Allgemeinen nicht durch den Beruf, sondern nur außerhalb der Fabrik durch Heirat. Üblich war für Arbeiterfrauen eine Erwerbstätigkeit bis zur Ehe.

Carmen! Immer wieder Carmen! Eine Figur kreiert Mode.
Blättert man in Modemagazinen findet man den Carmen-Ausschnitt, das Carmen-Kleid oder den Carmen-Rock. Ein Carmen-Ausschnitt ist ein tiefsitzender, oft volantgeschmückter Ausschnitt bei Blusen oder Kleidern, der die Schultern frei lässt. Inspiriert wurde der Carmen-Stil durch die Kleidung spanischer Flamencotänzerinnen bzw. durch traditionelle Trachten Andalusiens. Vom Carmen-Stil wird in Deutschland seit den 1970er Jahren im Allgemeinen gesprochen, wenn man einen sehr femininen Kleidungsstil mit schulterfreien Kleidern und Blusen, schwingende Röcke, Taillengürtel und Rüschen beschreibt. Rot ist außerdem die obligatorische Farbe die Carmen und dem Carmen-Stil zugeordnet wird. Kann man Carmen anders sehen?
Carmen! Immer wieder Carmen!
Carmen die Romni, die Verführerin oder warum wir das Z-Wort nicht benutzen.
Das Z-Wort steht für viel Leid und Gewalt. Nicht zuletzt ist es eine Erinnerung an den Porajmos – den Genozid an den europäischen Sinti und Roma in der Zeit des Nationalsozialismus. Der Buchstabe „Z“ und eine Nummer wurde den Sinti und Roma in den Konzentrationslagern auf die Haut tätowiert. Darum dürfe das Z-Wort in der deutschen Sprache keine Verwendung mehr finden. „Das Wort ist eine Fremdbezeichnung – es wurde kreiert, um Menschen als Untermenschen zu bezeichnen“, beschreibt Gianni Javonovic, Comedian und Roma-Aktivist. Auch in der englischen Sprache wurden Begriffe abgelöst und verändert.
Bereits 1971 beschloss der erste Weltkongress der internationalen Bürgerrechtsbewegung der Roma in London, die bis dahin im englischsprachigen Raum übliche Fremdbezeichnung „Gypsy“ als Gesamtbegriff für die Angehörigen der Minderheit durch die Eigenbezeichnung „Roma“ abzulösen.
Darüber hinaus kreist um Carmen die Zuschreibung der erotischen, hypersexuellen Romni. Sydnne Wagner schreibt in ihrem Text „Georges Bizets Carmen und die ‚liederliche Frau‘“: „Der Tropus der hypersexuellen, weiße Männer verführenden Romni ist keineswegs mit der frühen Moderne gestorben, sondern wurde vielmehr im 17. und 18. Jahrhundert ständig reproduziert. George Bizets Carmen ist zweifelsohne das bekannteste Bühnenstück, das von einer Romni und ihrer Sexualität handelt. Die französische Oper (…) schockierte das Publikum mit der Geschichte von Don José, einem spanischen Soldaten, der von der lüsternen Romni Carmen verführt und dann verlassen wird.“

CARMEN! Immer wieder Carmen! Opfer oder Täter?
Liest man die verschiedenen Inszenierungsansätze der letzten 50 Jahre, so liest man eine sich immer wieder verschiebende Täter-Opfer Zuschreibung der titelgebenden Carmen. Am Ende wird sie jedoch schlicht ermordet. Man nennt diese Art von Tötungsdelikt auch intimer Femizid. Der intime Femizid bezieht sich auf die Tötung einer Frau durch aktuelle oder frühere Intimpartner wie Ehemann, Freund oder Sexualpartner. Eine Vielzahl von Studien hat gezeigt, dass Frauen generell bis heute ein deutlich höheres Risiko tragen, durch einen Intimpartner getötet zu werden, als Männer. 2017 lag der Anteil der weiblichen Mordopfer bei Morden durch Intimpartner weltweit bei 82%.

Carmen bleibt eine komplexe und moderne Frauenfigur, die es immer wieder neu zu interpretieren lohnt. Carmen ist und bleibt eine selbstbewusste, entschiedene und emanzipierte Frau, die ihr Geld verdient, ihre Meinung äußert, ihr Leben gestaltet, sich ihre Liebhaber aussucht und verlässt, sich mit Schmugglern einlässt und kriminelle Energien entwickelt und nicht zuletzt eine Frau, die auf Grund all dieser Eigenschaften auf tragische Weise ihr Leben verliert. Trotz allem steht Carmen bis heute für sexuelle Befreiung und den bedingungslosen Willen zur Freiheit. „Frei wurde ich geboren, und frei werde ich sterben‟, ruft sie, bevor sie von ihrem sitzengelassenen Liebhaber erstochen wird.